KUNSTMÄRCHEN

 

Die blaue Glaskugel

Ein Müller hatte eine wunderschöne Tochter, sie war sein ein und alles. Eines Nachts hatte diese einen seltsamen Traum. Sie sah eine blaue Glaskugel schwebend durch ihr Zimmer gleiten. Und als sie diese näher betrachtete, sah sie in ihr das Spiegelbild eines schlafenden Kindes. Am anderen Morgen als die Müllerstochter aus ihrem Schlaf erwachte, wunderte sie sich sehr darüber, dachte aber bald nicht mehr darüber nach. In der darauffolgenden Nacht geschah das gleiche wieder.
Wiederum sah sie im Traume eine blaue Glaskugel durch ihr Zimmer schweben in welchem sich ein schlafendes Kindergesicht spiegelte.
Am nächsten Morgen als sie aufwachte, war ihr das nicht mehr geheuer und so beschloss sie, zur weisen Frau zu gehen die im Dorf wohnte. Diese hatte den Ruf einer Wahrsagerin und Hellseherin. Als sie ihr den Traum erzählte, wurde deren Gesicht sehr ernst.

Meine liebe Müllerstochter, das sind die ungeborenen Kinder, die mit uns in unserer Welt leben wollen. Sie schlafen und nur ein Mensch auf dieser Welt, der über unendliche Liebe in seinem Herzen verfügt, kann sie erlösen. Die Glaskugel ist so zart, dass sie bei jeder noch so leichten Berührung zerbrechen wird und das Kind darin kann nicht mehr erlöst werden.
Die Müllerstochter die ein liebevolles Herz hatte, fragte die weise Frau ob sie selbst die Kinder erlösen könne. Ich glaube schon, sprach die weise Frau, weil diese Nichtgeborenen in dein Zimmer gekommen sind. Was soll ich tun, um sie zu erlösen, fragte die Müllerstochter.
Du wirst heute Nacht zum dritten Male diesen Traum erleben, du hast nur noch dieses eine Mal die Gelegenheit. Berühre diese Glaskugel nur, wenn Du in Deinem Herzen reine Zärtlichkeit spürst. Denke keine Sekunde an etwas anderes. Fühle mit deinem ganzen Herzen und erst dann berühre mit all deiner Zartheit die Glaskugel, zerbricht diese nicht, sind alle ungeborenen Kinder erlöst.
Es kam wie die weise Frau es prophezeit hatte. Als die Nacht eintrat, träumte die Müllerstochter zum dritten Male diesen seltsamen Traum. Jetzt sah sie sehr viele blaue Glaskugeln mit schlafenden Kindern durch ihr Zimmer schweben. Eines kam ihr sehr nahe; die Müllerstochter spürte das Klopfen ihres Herzens und mit all ihrer Zärtlichkeit berührte sie die Glaskugel. Sie spürte die Wärme die von ihren Händen ausging und sah wie das Leben in die schlafenden Kinder eintrat, sie sah das zarte Rot ihrer Wangen, sie sah das Lächeln ihrer Augen aufleuchten und nach und nach entschwebten diese in die Nacht.
Im gleichen Moment ging der Vollmond auf und der Müllerstochter war, als lächle der Mond ihr zu.

 

by Roswitha Boneberger-Klett

04.02.2012

 

 




" Geburt der Liebe"  
          ( Primamalerei - by boart.de )